Hausandacht für den 2. Sonntag nach Trinitatis (21.06.2020)

verfaßt von Pastorin Katharina Rosenow (Ev.-Luth. Kirchengemeinde Neustrelitz-Kiefernheide)

Freitagabend. Es ist 21:26 Uhr.
Ich fahre morgen Mittag mit der ganzen Familie in den Urlaub, zelten an die Ostsee, doch ich habe noch kein bisschen gepackt. Im Flur türmen sich Zelte, Isomatten und Schlafsäcke, Standspiele ... Hier und da hängt nasse Wäsche herum, die hoffentlich noch trocknet und eingepackt werden kann, bevor wir los fahren. Und es ist noch so viel zu bedenken und der Ablauf für den Abend-Singegottesdienst direkt nach dem Urlaub muss noch an die Organistin weggeschickt werden. Ja, die Beschlüsse habe ich eben noch rumgeschickt, das Protokolleschreiben kann ich nach hinten verschieben und dann …
Aber eins nach dem anderen. Die Nacht ist ja noch jung …
(Vielleicht hören sie den ironischen Unterton auch in meinen geschrieben Zeilen!)

Puh!
„Soviel du brauchst – Geschichten von Mut und Manna“ – das kleine Büchlein meiner Lieblingsautorin Susanne Niemeyer fällt mir in den Blick und ich nehme es aus dem Bücherregal.
Eine Teilüberschrift springt mich heute direkt an. Das Kapitel 5 steht unter der Überschrift „Arbeit“ und ich lese bei Punkt 2: „Scheitere heiter!“
Ich muss schmunzeln und fange an zu lesen.
Das Geschrieben bezieht sich auf Prediger 9,10 … Mut und Himmelsbrot, genau im richtigen Augenblick … für mich … und vielleicht auch für dich, für Sie?

In einer Stadt steht eine Kirche. Ihre Türme zeigen in den Himmel und ihre Tür überragt jeden Menschen. Die Fenster leuchten und die Kunstschätze locken Besucher an. Wenn man die Kirche umrundet, kommt man zu einer zweiten Tür. Sie ist klein. Jemand hat ein Schild angebracht, „Jesus“ steht darauf, „Experte für’s Scheitern“. Seltsamer Titel. Du trittst ein.
„Guten Tag“ sagst du, nachdem du dich an das Dämmerlicht gewöhnt hast und einen Mann erkennst. Er trägt eine große Wunde an der Seite und lacht.
Du deutest auf das rote Fleisch: „Tut das nicht weh?“
„Doch, doch,“ nickt der Mann, „aber es heilt.“
„Was haben Sie getan?“
„Ich bin gescheitert.“
„Oh. Das tut mir leid.“ Dir fällt das Schild wieder ein. „Deshalb der Titel?“
Der Mann nickt.
„Ehrlich gesagt, sollten Sie vielleicht lieber ein Büro für’s Gelingen aufmachen. Das spricht die Leute sicher mehr an.“
„Bist du schon mal gescheitert?“
Du denkst nach. Du hast eine Liebe verloren, du standest an einem Grab. Du hast eine Kündigung unterschrieben, bist aus einer gemeinsamen Wohnung ausgezogen, hast Weihnachtskekse anbrennen lassen und Wäsche verfärbt. Dein Studienabschluss entsprach nicht den Erwartungen, deinen oder denen der anderen. Du hast dein Kind enttäuscht. Du hast dich selbst enttäuscht. Du hast ein paar Hoffnungen begraben, einen Geburtstag vergessen und Blumen vertrocknen lassen. Beim Hochsprung hast du die Latte gerissen, nicht gewonnen, was du gewinnen wolltest, und mit 50 bist du nicht die gewesen, die du dir einst vorgestellt hattest zu sein. Du hast falsche oder gar keine Worte gefunden, du hast ein paar Fünfen geschrieben. Du hast dir Dinge vorgenommen, die du nicht erreicht hast, manche, obwohl du dich angestrengt hast, andere waren der Trägheit unterlegen. Aber du stehst hier und lebst. Du bist an vielen kleinen Dingen, aber nicht am Leben gescheitert.
„Ja. Nein. Was ist Scheitern?“
„Gescheiter werden.“
„Jetzt beschönigen Sie aber.“
„Hast du als Kind laufen gelernt? Fahrradfahren?“
„Sicher.“
„Und? Wie hast du das gemacht?“
„Ich bin hingefallen und wieder aufgestanden. Ich habe den Dreck abgeschüttelt und weitergemacht. Manchmal habe ich geweint. Weil es weh tat oder weil ich wütend war, dass es nicht klappte, wie ich wollte.“
„Und dann?“
„Und dann hat mich jemand getröstet.“
„Weil du deine Wunde gezeigt hast. Ich zeige auch meine Wunde.“
„Damit dich jemand tröstet?“
„Damit mich jemand tröstet. Damit jemand Mut fasst. Damit er weißt, er ist nicht allein, er ist nicht der Einzige, der verletzt wurde, dem etwas nicht gelingt. Scheitern ist keine Schande.“
„Eine Wunde macht Angst.“
Der Mann wiegt den Kopf. „Sie zeigt, dass die Welt keine Helden braucht. Sie zeigt, dass man sich einsetzen kann für alles im Leben. Dass ein Versuch tausend Mal mehr Wert ist als Unversehrtheit. Jede Wunde zeigt, du hast mitgemacht. Jedes Scheitern heißt: Du hast es versucht.“
„Aber Scheitern, das kann doch auch schlicht auf Dummheit beruhen. Auf Ignoranz.“
„Dann lerne. Versuch es noch einmal. Solange du lebst, hast du täglich eine neue Chance. Hinter jedem Scheitern steht ein ‚Und‘. Ein ‚Und weiter‘. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Sie kann eine unerwartete Wendung nehmen.“
Er hält einen Moment inne. „Deshalb sitze ich hier.“

Ja, ich möchte mitmachen und versuchen und mein Bestes geben und einlassen und ausprobieren und …
Vielleicht scheitere ich hier und dort…und werde dadurch gescheiter?
Scheitere heiter!

Ich denke, ich werde jetzt wohl einfach schlafen gehen und morgen Sachen packen.
Ihre Pastorin Katharina Rosenow.

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